Die Gründung

Zehn Jahre waren seit dem Beginn der Planungen vergangen, als die "Evangelische Landesschule zur Pforte" am 1.5.1968 feierlich eröffnet wurde. Der Festakt fand in der Turnhalle statt - eine Aula gab es nicht. Weite Teile der gesamten Anlage waren erst im Rohbau fertig.

 

Anläßlich dieser Feier stiftete der damalige Leiter des Schulkollegiums Münster und Altpförtner F. Bruns die Amtskette des Rektors der Ev. Landesschule zur Pforte, die dem ersten Rektor, Dr. Chr. Hartlich, von dem damaligen Vizepräsidenten der EKvW, D. J. Thimme, mit den folgenden Worten überreicht wurde:

Im Namen der Leitung der Evangelischen Kirche von Westfalen, des Schulträgers dieser heute ihren Dienst eröffnenden Einrichtung übernehme ich diese Kette als Zeichen des Kettenschlusses der Generation von gestern über heute auf morgen zu, strahlend im Silberglanz. der auf Hoffnung weist, und geschmückt mit der Münze. die an die Geschichte erinnert. Ich übernehme diese Kette und überreiche Sie Ihnen, dem Rektor dieser Schule. damit Sie sie tragen mögen als ein Zeichen der Hürde und der dienenden Verantwortung an den Menschen, die hier aus- und eingehen. (NP. 11(1988). S.18)

Dieser Tag markierte den vorläufigen Abschluß langwieriger Planungen, Überlegungen und Mühen der "Generation von gestern" und den Beginn des Engagements einer neuen Generation "über heute auf morgen zu".

Aber er verdeutlichte gleichzeitig symbolhaft: Die Landesschule war noch nicht fertig, war noch ein Provisorium.

Die Feierlichkeit der Eröffnung wich bald der rauhen Wirklichkeit des Alltags.

Die ersten Schüler, 24 an der Zahl, waren bereits bei der Eröffnung zugegen. Da das Schulgebäude noch nicht fertiggestellt war, wurden diese Schüler der Klassen UII und 0II, die in den nachfolgenden Jahren die Präfekten stellen sollten, zunächst in den Wohnräumen des Internatsgebäudes II unterrichtet; die Gänge zwischen den Gebäuden waren offen, Regen und Wind hatten ungehindert Zutritt.

Aber - ein Anfang war gemacht.

„Die neue Generation übernahm eine Aufgabe, an deren vorbereitender Planung und Gestaltung sie kaum Anteil gehabt hatte, mit der sie sich aber identifizieren konnte. Eine Idee, ein Rahmen war vorgegeben, den sie in widriger Zeit umsetzen und mit Leben erfüllen sollte.“

Der erste Rektor der Landesschule umschrieb diesen Rahmen in einer Rede anläßlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an den Altpförtner Dr. W. Lauer, einen engagierten Freund, dem die Landesschule großen Dank schuldet. Die Aufgabe, eine bestmögliche Erziehung und Bildung zu ermöglichen, sollte sich in den folgenden Essentials dokumentieren:

  1. Die Schule soll junge Begabungen fördern und fordern, soll auf geistige Leistung achten...
  2. Der Zugang zur Schule soll Jungen aus allen Schichten offen stehen, auch und gerade aus den sozial benachteiligten und unterprivilegierten Schichten.
  3. Unterricht und Erziehung, ins tructio und educatio, sollen möglichst eine Einheit bilden. Dies geschieht am besten in einem gemeinsamen Leben, also in einer Internatsschule.
  4. An der Gestaltung des gemeinsamen Lebens sollen die Jungen, soweit irgend vertretbar, mitbeteiligt werden, vor allem in der Form, daß sie Verantwortungen und 4mter im Dienst der Gemeinschaft übernehmen.
  5. Die Tätigkeit der Lehrer soll sich nicht nur auf den qualifizierten Unterricht beschränken. sondern sie sollen zugleich als Erzieher wirken... Im Unterschied also zu anderen Internatsschulen, in denen eine Trennung von Unterrichtenden und Erziehern vollzogen ist. soll auch hier eine personale Einheit bestehen.
  6. Die personale Begegnung zwischen Lehrer und Schüler soll weiter dadurch ermöglicht werden, daß jeder Lehrer als Tutor die Betreuung einer kleinen Gruppe übernimmt.
  7. Die Schule soll beständig bemüht sein, den Hiat, der im 19. Jahrhundert zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften eingetreten ist, zu überwinden.
  8. Die Schule lebt aus dem Geist der Reformation. Die Auseinandersetzung mit dem Christentum soll ein unersetzliches Element der Bildung an dieser Schule sein. (13.8.1972. In: NP. 1(1973). S.21)

Die Landesschule hatte es nicht leicht, als sie ihre ersten vorsichtigen tastenden Schritte ins Leben tat. Sie mußte in dem Dreieck traditioneller Anspruch - evangelische Orientierung -pädagogische Wirklichkeit ihren Standpunkt, ihre Identität finden.

 

 

Gegenwind

Der Wind der politischen und damit auch der bildungspolitischen Landschaft blies der Schule mitten ins Gesicht. Begriffe wie Tradition, Leistung, Begabtenförderung u.a., unter denen die Landesschule antrat, standen in der Öffentlichkeit zur Diskussion und Disposition.

Revolutionäre Ereignisse erschütterten die Universitäten und die bundesrepublikanische Gesellschaft (s. Studentenrevolte 1968). Die Forderung nach "mehr Demokratie", nach einer "Demokratisierung der Institutionen" und nach dem "Abbau hierarchischer Strukturen" beherrschte die politische Diskussion.

Dem Ruf nach mehr Demokratie entsprach im pädagogischen Bereich der Ruf nach "Emanzipation", nach "antiautoritärer Erziehung". Dieser Begriff hatte durch das Buch Erziehung in Summerhill: das revolutionäre Beispiel einer neuen Schule. (1965) des Engländers A.S. Neill weite Verbreitung erlangt.

In diese Auseinandersetzung eingebunden war eine intensive pädagogische Diskussion zur inhaltlichen Neubestimmung der Begriffe "Begabung"," Lernen" und "Leistung".

Und: jene bildungspolitische Diskussion, die durch Georg Pichts Kassandraruf von der "deutschen Bildungskatastrophe" (1964) ausgelöst worden war, zeigte erste konkrete Ergebnisse in der Proklamierung notwendiger Reformen des westdeutschen Bildungssystems, vor allem des Gymnasiums (kooperative, additive oder integrierte Systeme; Gesamtschule).

Nicht nur diesen Herausforderungen mußte sich die junge Landesschule stellen. Hinzu trat noch manches Etikett, das man ihr anheftete, und gegen das sie sich wehren mußte. Das Wort von der "Eliteschule" war eines dieser Etikette und ganz und gar nicht hilfreich für das Bemühen, in der bundesrepublikanischen Gesellschaft einen angemessenen Platz zu finden. Zwar hatten sich die Gründer der Landesschule darauf verständigt, daß

Begriff und Leitbild einer Eliteschule, wie er mit allen belastenden Begleiterscheinungen den alten Fürstenschulen teilweise angehaftet hatte, außer Betracht gelassen und im Gegenteil ausdrücklich abgewehrt werden sollte, (D. Thimme. 10 Jahre Landesschule. In: NP. 4(1978). 5. 3)

- ohne damit "Leistung" diskreditieren zu wollen - aber es scheint, daß sich nicht alle Betroffenen an diese Absprache gehalten haben.

Zudem blieb es nicht verborgen, daß auch innerhalb der Synode der EKvW nicht geringe Widerstände gegen die Gründung einer Schule solchen Zuschnitts zu jenem Zeitpunkt bestanden hatten und weiterhin bestanden.


 

Drohte die Schule schon unmittelbar nach ihrer Eröffnung zwischen (bildungs-) politische Fronten zu geraten?

Dann die Wahl des Schulstandortes: Meinerzhagen liegt weit ab von großen Städten, eine "Idylle" am Rande des Sauerlandes; hier eine Schule neu zu gründen, sozusagen ein pädagogischer locus amoenus kam zwar den Vorstellungen und Intentionen vieler Gründer entgegen. Würden diese Vorstellungen aber in denen der betroffenen Interessenten, der Eltern und Schüler, eine Entsprechung finden?

Ferner: Das Bild von Internaten, das sich im westdeutschen Raum seit Alters her geprägt hatte, war keineswegs positiv. Im Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit war eher die Vorstellung von einer schulischen "Presse" verankert - ein unausrottbares Vorurteil? Würde es der Landesschule, deren Klientel ja gerade nicht aus schulischen Problemfällen gebildet werden sollte, gelingen, sich gegen diese Prägung erfolgreich abzugrenzen und sich als Alternative in der Öffentlichkeit bewußtzumachen und darzustellen?

 

Anders gefragt: Würden auf die Dauer in Westdeutschland genügend Eltern Interesse an einer solchen Internatsschule zeigen, in ihr eine bessere Alternative zum öffentlichen Schulwesen sehen und daher bereit sein, ihre Kinder dieser Schule anzuvertrauen?

Und schließlich: die Landesschule mußte zahlreichen Vorurteilen der Meinerzhagener Bevölkerung begegnen. Sie wurde - hoch über der Stadt gelegen - wie ein Fremdkörper empfunden; allerdings taten viele Schüler in den ersten Jahren (z.B. durch ihr Verhalten und durch ihre Kleidung) alles, um dieses Image zu pflegen. Erst allmählich konnte sich das Verhältnis Schule - Bevölkerung normalisieren.

Unter der Verpflichtung und der Belastung, sich diesen von außen an die Schule herangetragenen Problemen zu stellen, trat das Kollegium an, den vorgegebenen Rahmen der Einrichtung Landesschule mit Inhalt zu füllen. Dabei war es keineswegs gewillt, dem Zeitgeist zu huldigen.

In den ersten zwei bis drei Jahren wurde die Kraft des Kollegiums - in der Werbung gern als jung und dynamisch beschrieben - von dieser Aufgabe völlig absorbiert. Es agierte mit dem Elan einer Gründergeneration. Und was dieses Kollegium vor allem auszeichnete, war, daß es sich - bei allen sachlichen und inhaltlichen Differenzen hinsichtlich des zukünftigen Kurses des Schiffes "Landesschule" - über lange Jahre hinweg immer als Team verstanden und als solches gehandelt hat!

 

 

Die Schule

Im Schuljahr 1968/69 wurden drei weitere Klassen in der Mittelstufe eröffnet. Im darauffolgenden Schuljahr 1969/70 kam die Quarta als letzte Klasse hinzu, und die ersten Oberprimaner der neuen Landesschule machten am Ende dieses Schuljahres bereits das Abitur.

Wenn man sich vergegenwärtigt, wie schwierig es in den letzten Jahren war, das Interesse von Eltern und Schülern an einer Internatsschule vom Zuschnitt der Landesschule zu wecken, so kann man sich nur freuen, daß es in den ersten Jahren gelang, die geplanten Klassen in so kurzer Zeit mit Schülern zu füllen (denn bereits 1970 wurde der erste Höhepunkt der Schülerzahlen überschritten). Das lag sicherlich auch daran, daß die Verantwortlichen rechtzeitig begonnen hatten, kontinuierlich in einflußreichen Medien für die Landesschule zu werben. So wurde z.B. in der Zeitschrift für die evangelische Akademikerschaft Radius im Heft 3 (9/1967) eine Anzeige plaziert aus der in Auszügen zitiert werden soll:

Ziel der Schule ist es. junge Begabungen in charakterlicher und wissensmäßiger Hinsicht zu fördern, daß sie später einmal in ihrem Leben Stellungen mit weitreichenden Verantwortungen übernehmen können. Freiere Formen des Unterrichts leiten zu selbständiger geistiger Arbeit, zu begründetem Urteil und zu kritischem Denken an Sport und Spiel wie die Pflege der Musik, des Theaters und aller Formen bildnerischen Gestaltens entwickeln die jungen Kräfte im Sinne einer ganzheitlichen Erziehung...

Voraussetzung für eine Aufnahme war, daß der Durchschnitt der Leistungen in den Kernfächern nicht unter der Note "befriedigend" lag. Diese Voraussetzung wurde gemacht aus der Überzeugung, daß schulische Probleme der einzelnen Schüler diese nicht davon abhalten sollten, im Internatsbereich verantwortungsreiche Aufgaben zu übernehmen.

Um zu verhindern, daß soziale Barrieren einen Besuch der Landesschule ausschlössen, wurde ein Freistellenwerk- die Melanchthon-Stiftung - gegründet, das einem großen Teil der Schüler Ermäßigungen bis hin zu Freistellen gewähren konnte.

Innerhalb von gerade zwei Jahren jedenfalls hatte sich der schulische Rahmen komplettiert, waren die Klassen IV - 0I eingerichtet, besuchten 114 Schüler die Landesschule: sicherlich ein sehr kurzer Zeitraum für den Aufbau einer neuen Schule. Und manch ein Mitglied des Kollegiums hätte sich einen längeren Zeitraum zum (Heran-)Wachsen der Schule gewünscht und war über die scheinbar notwendige und gebotene Eile nicht glücklich.

Nach außen hin war die Landesschule kein Provisorium mehr. Sie war - im klassischen Sinn - ein altsprachliches Gymnasium für Jungen; alle Schüler hatten Unterricht in den alten Sprachen, Griechisch, Latein, Deutsch und Mathematik waren für jeden Schüler Abiturfächer; die neueren Sprachen waren nur durch das Fach Englisch vertreten, das bis 0II unterrichtet wurde. Die Sprachenfolge in der Mittelstufe war allerdings bereits den veränderten schulischen Realitäten des Landes NRW angepaßt: es gab als Sprachenfolge sowohl das Profil LA - E - GR als auch das Profil E -LA-GR; damit war es auch Schülern von naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Gymnasien ohne Schwierigkeiten möglich, in die Landeschule einzutreten.

Daß die EKvW bereit war, sich für ihre einzige Internatsschule zu engagieren, zeigte sich u.a. darin, daß sie die Landesschule auf großzügigste Weise ausstattete: das trifft auf alle unterrichtlichen Bereiche zu, vor allem aber auf die naturwissenschaftlichen Sammlungen.

Zudem stellten damals weder der Schulträger noch die Ehemaligenverbände die innere Autonomie des Schulbetriebs in Frage. Man traf sich in der Überzeugung, daß ein solcher Freiraum für die pädagogische Gestaltung in Unterricht und Erziehung unabdingbar war. Was jedoch nicht ausschloß, daß der Träger in personellen und zum Teil in strukturellen Angelegenheiten - wenn auch nur in Einzelfällen - Entscheidungen des Kollegiums überging, um seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen.

 


Das Internat

1. Allgemeine Ziele

"Einüben ins Lernen durch gemeinsames Leben". Unter dieses Prinzip ließe sich das pädagogische Konzept der Landesschule fassen. Die Demokratie sollte kein Sandkastenspiel sein. Deshalb sollte die Schülerselbstverwaltung insbesondere in Internatsangelegenheiten weitestgehend ausgebaut werden. Ältere und jüngere Schüler sollten in kleinen, gemischten und überschaubaren Gruppen eigenverantwortlich miteinander leben. In der Verantwortung für andere sollten junge Menschen ihr eigenes Wert- und Pflichtbewußtsein ausprägen und sichern.

Das war und ist sicherlich kein risikofreies Unterfangen, wenn man bedenkt, daß diejenigen, die Verantwortung für jüngere übernehmen sollen, sich selbst noch in der Entwicklung befinden.

Doch dieses Risiko gingen die Ehemaligen und die pädagogisch Verantwortlichen bewußt ein, weil sie zum einen Erfahrung mit diesem Prinzip hatten und zum anderen der festen Überzeugung waren, daß der zu erwartende persönliche Gewinn für jeden einzelnen Schüler das Risiko bei weitem ausgliche. In einem überschaubaren Rahmen, im "Mikrokosmos Internat" gäbe es ähnliche Probleme, wie sie sich später im Alltag des öffentlichen Lebens stellten. Demokratische Verantwortung verkümmere damit nicht zu theoretischen Gedanken- und Sandkastenspielen, sondern wäre schon für junge Menschen unmittelbar erfahrbar, einübbar im sozialen Lernen - als gelebtes Leben.

Die erste Präfektengeneration an der Landesschule beschrieb ihre Erwartungen und Hoffnungen anläßlich der Eröffnung am 1.5.68 in einer Ansprache, die hier in Auszügen wiedergegeben sei:

... Als Sprecher der jungen Generation, die heute in die Landesschule einzieht, möchte ich mit einigen Worten die Erwartungen andeuten, die uns erfüllen. Was uns lockt, ist die Hoffnung, hier eine junge selbstverantwortliche Gemeinschaft aufbauen zu können. Von politischer Erziehung ist so viel die Rede. aber in den üblichen Vormittagsschulen bleibt sie zumeist reine Theorie.Hier in der Internatsgemeinschaft dagegen stellt jeder Tag eine Fülle von politischen Aufgaben. Es geht wesentlich darum, eine Ordnung zu schaffen, die jedem Glied der Gemeinschaft die größtmögliche Freiheit zusichert. Gelingt uns die Lösung dieses Problems. so glauben wir damit gut auf ein Leben der politischen Verantwortung vorbereitet zu sein. Weiter hoffen wir, hier die Gelegenheit zu konzentrierter geistiger Arbeit zu finden. Wir wollen dem Schema. in das man an anderen Schulen gestellt wird, entfliehen und uns hier eine eigene Arbeitsordnung schaffen, nach eigenem Maß - Wir sind eine kritische Jugend, vielleicht auch eine etwas unbequeme Jugend. Wir folgen keiner Autorität, die auf äußeren Zwang aufgebaut ist. Nur einer Autorität, die uns durch die Überlegenheit der Gründe einleuchtet, können wir folgen, und eine solche 4utorität bedarf keines äußeren Zwanges mehr. Zu diesem Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern gehört. wie wir meinen, die offene Diskussion über alles, was an der Schule vorgeht. Das Mitwirken beim Durchdenken von Problemen, die an anderen Schulen unter Lehrern bleiben, ist doch ein Teil der Verantwortung, die zu tragen wir hier lernen sollen. Lind wenn wir dabei klüger zu sein beanspruchen, als wir es sind, die Form verletzen,. bitten wir unsere Lehrer. geduldig zu sein und nie zu vergessen, daß wir eine Gemeinschaft freier Menschen gründen wollen, und ein solcher Prozeß wird ohne Schmerzen nicht möglich sein...Das Werk, das vor uns steht. kann nur erfüllt werden, wenn zwischen Lehrern, Schülern und den zuständigen Behörden Vertrauen besteht. Wir hoffen, daß es uns geschenkt wird, wie wir unsererseits es schenken wollen. Unsere Erwartung ist groß. Das Leben hier wird uns manche Mühe machen, aber wir sind bereit zu diesem Einsatz.
(R. Grimm. NP 11(1988) 5. 19)

Die Erwartungen, die hier gesetzt wurden, waren hoch. Welche Probleme würde ihre Realisierung im Schul- und Internatsalltag aufwerfen?

 

 

2.  Die Struktur des Internates

Bei der Übertragung der Schultraditionen auf die neue Landesschule hatte sich in der Frage des Internatssystems das Prinzip des Schulstaates durchgesetzt gegenüber dem des Familieninternates, welches im Joachimsthalschen Gymnasium praktiziert worden war. Hingegen fand bei der baulichen Gestaltung die Joachimsthalsche Tradition einer aufgelockerten Bauweise Berücksichtigung.

Das Internat bestand aus vier Häusern, von denen drei über Gänge miteinander verbunden sind. Im Schnittpunkt dieser Gänge befand sich das Hebdomadariat. Das vierte Haus, das Quartanerhaus, lag etwas abseits von den anderen. Im Zentrum von Agora, Kapelle und allen Internatsteilen wurde der Spielteil, der eigentliche Freizeitbereich des Internates, errichtet. Dort luden in den ersten Jahren eine Schülerbibliothek, ein Zeitungsraum, ein Fernsehraum (die Dauer der Fernsehzeit war begrenzt; die Sendungen wurden von Schülern nach einem bestimmten Schlüssel ausgewählt), einige Aufenthalts- und Arbeitsräume, ein Kaminraum, eine Bar, ein Fotolabor und ein Bunker zum Verweilen und Entspannen ein.

 

Jedes der vier Internatsgebäude folgte in seiner baulichen Struktur dem Prinzip der Trennung des Wohnbereichs vom Schlaf- und vom Sanitärbereich. In zwei der drei Hauptinternaten befand sich zudem ein kleines Apartment.

Diese äußere Struktur spiegelte die innere Struktur des Internates. Sie war funktional, insofern sie in ihrer baulichen Gestaltung die Ideen und Vorstellungen vom Leben in dieser Internatsgemeinschaft berücksichtigte und umsetzte.

In den Wohnräumen lebten altersgemischte Kleingruppen von maximal acht Schülern, die von einem Präfekten, einem Primaner betreut wurden. Diese Räume waren eher spartanisch eingerichtet. Eine solche Zimmergemeinschaft teilte sich einen Bereich im Sanitärtrakt (Wasch- und Umkleideraum). Die Schlafräume - ein kleinerer Raum für jeweils vier Schüler - wurden mit alters- bzw. stufengleichen Gruppen belegt, so daß die einzelnen Altersgruppen unterschiedliche Zubettgehzeiten ohne Störung der anderen einhalten konnten.

Zwei Begriffe umschreiben das Herz des pädagogischen Systems, seiner Struktur und des Lebens im Internat: Hebdomadar und Präfekt. Diese beiden Begriffe bezeichnen Institutionen, die zum Proprium der Landesschule gehörten. Sie waren aufeinander bezogen: der eine war ohne den anderen nicht denkbar und umgekehrt.

Hebdomadar hieß der Lehrer, der für eine Woche die Leitung des Hauptinternates übernahm. Er war während dieses gesamten Zeitraumes der einzige verantwortliche Erwachsene im Hauptinternat und war somit "rund um die Uhr" im Dienst.

Da alle Lehrer der Landesschule im wöchentlichen Wechsel diese Aufgabe übernahmen, konnte sich Kontinuität in einer Person nicht darstellen (ein Problem, das zu vielen Diskussionen führte). Daraus ergab sich, daß die Hebdomadare in Besprechungen und pädagogischen Konferenzen ihre pädagogischen Verhaltensweisen zu überprüfen, begründen und aufeinander abzustimmen gezwungen waren, um auf diese Weise eine gewisse Kontinuität in der Führung des Hebdomadariats herzustellen.

Die Präfekten trugen jeweils für ein Jahr die Verantwortung in einer Zimmergemeinschaft. Sie repräsentierten für diesen Zeitraum Kontinuität in der Präfektur. In der Funktion als Zimmer- und ggf. als Hauspräfekten, die für den Tagesablauf zuständig waren, standen sie in einem engen Kontakt zu dem jeweiligen Hebdomadar.

Das Quartanerinternat, die Eingangsstufe in die Landesschule, war räumlich und organisatorisch von den Hauptinternaten getrennt. Dort hatte eine Frau die Leitung (i.d.R. eine sozialpädagogisch ausgebildete Fachkraft). Sie wurde in ihrer Arbeit von Oberstufenschülern (Senioren ) unterstützt.

Aufgabe des Quartanerinternates war es, den jüngsten Schülern den Übergang aus dem vertrauten Rahmen und Raum der Familie in die unbekannte Welt eines Internats mit andersartigen Strukturen und Lebensbedingungen zu ebnen und den schwierigen aber wichtigen Weg der Selbstfindung zu erleichtern.

 


3. Tutor und Tutele

Über die wöchentliche Internatsleitung hinaus waren die Lehrer durch vielfältige Gestaltung am Internatsleben beteiligt. Außerdem war jeder Lehrer Tutor einer Zimmergemeinschaft. Er wurde zu Beginn eines jeden Jahres, wenn die Gruppen (Tutelen) neu gebildet wurden, einem Präfekten und seinem Zimmer zugelost.

Die Tutoren waren nicht vorrangig in den Tagesablauf des Internates eingebunden, sondern waren eher Ansprechpartner und Mittler zwischen den Eltern und ihren Kindern in Schul- und Internatsangelegenheiten und, sofern sich ein Vertrauensverhältnis herausgebildet hatte, auch für ihre Tutanden, wenn es um private und sehr persönliche, auf jeden Fall aber, wenn es um sachliche Probleme (Konflikte, Strafen und dgl.) ging.

Tutelenveranstaltungen fanden in der Regel im Hause des Tutors statt, so daß auch dessen Familie mittelbar in das Internatsleben einbezogen war. Die Haus- und Ehefrau - gelegentlich liebevoll Tuteuse genannt - spielte, gerade weil sie nicht direkt in das Internat hineinwirkte, eine nicht zu unterschätzende Rolle: sie übernahm häufig die Funktion einer Ersatzmutter, vor allem für die jüngeren Schüler und später für die Mädchen. Manche Dinge waren eben nicht für die Ohren des Tutors bestimmt!

 

In wenigen Fällen wurden die Familien von Tutoren für kürzere oder längere Zeit zu richtigen Ersatzelternhäusern. Und manche Bindungen zwischen Tutor und Tutand werden heute noch gepflegt.

 

Aber auch das andere muß gesagt werden: nicht immer ließ sich ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Tutor und der Tutel aufbauen. Dann blieb neben im wesentlichen formalen Kontakten nur die Hoffnung auf eine bessere Konstellation im folgenden Jahr.

 

Dieses Problem wurde unter den Hebdomadaren häufig diskutiert; eine sinnvolle Alternative zum Tutoriat hat man nicht gefunden. Die Intention, durch das Prinzip des jährlichen Wechsels sowohl in der Zusammensetzung einer Zimmergruppe als auch in der Zuordnung Tutor - Tutel die Fähigkeit des Umgangs mit wechselnden Bezugspersonen auszubilden, überforderte an dieser Stelle Lernende und manchmal auch Lehrende.

 

Die Möglichkeit, seitens des Schülers neben den formalen Kontakten zum Tutor des laufenden Jahres engere zu einem früheren Tutor zu pflegen, kann über die grundsätzliche Problematik nicht hinwegtäuschen.

4. Der Tagesablauf

Ohne ein gewisses Maß an Regelungen kann eine Lebensgemeinschaft, wie sie ein Internat darstellt, nicht auskommen. Aber auch dieser funktionale Anteil an der Erziehung kann sich wandeln, wenn die beteiligten Interessengruppen (Eltern, Schüler, Lehrer) unter sich entsprechende Vereinbarungen treffen.

Ein wichtiges Element funktionaler Erziehung war, die zeitlichen Rahmenbedingungen, die das Internatsleben organisierten und ordneten, einsichtig zu machen, zumal die meisten Schüler, die an die Landesschule kamen, daran gewohnt waren, ihre Zeit sehr individuell und freizügig zu planen Dieser Prozeß wollte nicht immer gelingen, und es gab manche bittere Diskussion z.B. über die Zubettgehzeiten der Oberstufe.

Und so stellte sich der Tagesablauf in den Anfangsjahren der Landesschule dar:

6.05 h                    Wecken mit Musik durch die Wochenpräfekten

6.40 - 7.00 h           Frühstück

7.05 - 7.20 h           Frühsilentium

7.30 - 12.50 h         Unterricht

13.00 - 13.30 h       Mittagessen

13.30 - 16.55 h       Sport, AG´s, Musik, Freizeit

17.00 - 19.00 h       Silentium

19.05 - 19.30 h       Abendessen

19.35 h                  Abendversammlung in der Kapelle

ab 20.45 h              Nach Stufen gestaffelte Zubettgehzeiten

22.10 h                  Lichtschluß für UI/OI

Dieser Rahmen wurde im Laufe der Jahre an vielen Stellen verändert. Aber es bedurfte immer zahlreicher Gespräche und langer Diskussionen in Ausschüssen und Konferenzen, um einen Schritt zu tun.



5. Das Präfektensystem - soziales Lernen

Präfekten, i.d.R. Oberprimaner, wurden in den ersten Jahren von allen Schülern gewählt. Natürlich gab es vorher Diskussionen und informelle Absprachen über eine mögliche Qualifikation zum Präfektenamt. Die Hebdomadare waren an dieser Findung nicht beteiligt. Wie verantwortungsbewußt die Schüler in den ersten Jahren mit diesen Ämtern umgingen, zeigt sich u.a. darin, daß sich die Lehrer nicht genötigt sahen, im Rahmen ihrer pädagogischen Verantwortung auf die Absetzung eines Präfekten zu drängen - was in späteren Jahren hin und wieder geschah.

Um die Präfekten herum bildeten sich Zimmergemeinschaften aus Schülern verschiedener Altersstufen. Bei diesem Prozeß suchte ein von Lehrern und Schülern paritätisch besetzter Ausschuß (Belegungsausschuß, später Soziogrammausschuß), den Wünschen der Schüler so weit wie möglich entgegenzukommen. Wenn dieses gelang, konnte das bedeuten, daß Gruppen entstanden, die über mehrere Jahre in ihrem Kern konstant blieben und eine Art Zimmertradition entstehen ließen.

Natürlich gelang eine harmonische Gruppenbildung nicht immer. Dann lag es wesentlich in der Hand des Präfekten (und ggf. des Tutors), ob er das nötige pädagogische Geschick besaß, den Stil des Zimmers in seinem Sinn zu prägen und eine besondere Vertrauensperson vor allem für die jüngeren Schüler zu werden.

In der vorgegeben vorläufigen Präfektenordnung hieß es über die Zimmerpräfekten:

Sie achten auf Ordnung in den ihnen anvertrauten Räumen und haben deren Ausgestaltung im Auge. Sie achten auf Einhaltung des Silentiums und kontrollieren nach dem ersten Silentium stichprobenweise die Hausarbeiten der jüngeren Schüler.(NP. 3(1976). 5. 12)

Neben den Zimmerpräfekten, die für ein Jahr im Amt waren, gab es in den drei Häusern des Hauptinternates je zwei wöchentlich wechselnde Hauspräfekten:

Die Hauspräfekten ... sind tagsüber allgemein für die Ordnung der Häuser außerhalb der Tagesräume zuständig, sorgen morgens für rechtzeitiges Aufstehen. für einen geordneten Aufbruch zu den Andachten, ... und sehen auf Einhaltung der im Tagesplan vorgesehenen Termine. Die Präfekten bzw. das Präfektenkollegium können Strafen verhängen. Diese Strafen sind Rügen, Lernstrafen von fremdsprachlichen Prosa texten Freizeit- und Verbotsstrafen. (Ebd.)

Zusammen mit dem jeweiligen Hebdomadar, der übrigens keine direkte Strafgewalt hatte, bildeten diese sechs Hauspräfekten das Wochenteam, das gemeinsam den Ablauf der Woche plante, und alle Dinge und Probleme besprach, die aktuell waren oder werden konnten.

Die Gruppe der Zimmer- und der jeweiligen Hauspräfekten bildete das Präfektenkollegium (PK), das sich in wöchentlichen Sitzungen mit den täglichen Dingen des Internatslebens auseinandersetzte, Strafen aussprach und Probleme der Internatsordnung diskutierte.

Das PK war gleichzeitig ein Koordinations- und Integrationsinstrument, das verhinderte, daß die jeweiligen Präfektengruppen der einzelnen Internatsteile Sonderwege einschlugen. Es spricht für das demokratische Verständnis dieses Gremiums, daß es schon bald aus jedem Internatsteil einen Vertreter der Nicht-Präfekten mit Sitz und Stimme in seinen Reihen zuließ.

In diesen Gremien und personalen Strukturen dokumentierte sich an der Landesschule das Prinzip des sozialen Lernens:

  1. Die Schüler waren generell an Entscheidungsprozessen, die das Internat betrafen, beteiligt.
  2. Sie waren als Hauspräfekten zusammen mit den jeweiligen Hebdomadaren für die Gestaltung des Internatslebens verantwortlich.
  3. Sie gestalteten als Mitglieder einer Zimmergemeinschaft selbständig (ggf. mit dem Tutor) das Leben in der Tutel; dazu gehörte auch und vor allem die Besprechung pädagogischer Probleme untereinander sowie ggf. die Abstimmung in anstehenden Fragen zwischen Präfekt und Tutor.
Erste Reformen

 

Ob man es will oder nicht, die Landesschule war nicht nur ein Ort von Unterricht und Erziehung. Sie war auch ein Wirtschaftsunternehmen, das langfristig nur lebensfähig war, wenn das Verhältnis von Angebot und Nachfrage stimmte. Zwar wurde dieser Aspekt in der Euphorie der ersten Jahren verdrängt, wurden Sorgen, die diesbezüglich geäußert wurden, als unbegründet hingestellt. Aber es ist einfach eine Tatsache, daß es der Landesschule - sowohl denen, die sie trugen als auch denen, die in ihr lebten und arbeiteten - in ihrer ganzen Geschichte zu keinem Zeitpunkt möglich war, sich frei zu machen von der Sorge um eine genügend große Zahl von Schülern. Und noch dem letzten Rektor, Dr. Kremer, wurde von offizieller Stelle bedeutet, daß er Schule und Internat zu füllen habe, andernfalls könne ein Weiterbestehen nicht garantiert werden. Die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens Landesschule erwies sich als ein Damoklesschwert.

Und so waren die folgenden Fragen von Anfang an drohende Begleiter der Verantwortlichen vor Ort:

Würden die Gegner des Modells Landesschule sich schon bald bestätigt sehen? Würde eine andere politische Konstellation sich negativ auf die zukünftigen Chancen der Landesschule auswirken? Und vor allem:

Würde die Klientel, auf die die Landesschule zugeschnitten war, das vorhandene Angebot akzeptieren und unverändert annehmen wollen?

aa. Entwicklungen im Schulbereich

Das Alte, Bewährte in das Neue fortzuentwickeln war die Aufgabe, die Lehrern und Schülern gestellt war. Programm und Hebelarm zugleich war dabei das Schulstatut, aus dem sich auch die oben aufgeführten Essentials ableiteten.

Das Problem war komplex. Denn es gab im Kollegium unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Vorgaben fortzuentwickeln seien und mit welcher Dynamik das geschehen sollte. Die Jahre des Aufbaus waren jedenfalls geprägt durch viele intensive und in der Sache harte Diskussionen zwischen einer eher konservativ und einer eher liberal geprägten Gruppe. In diese Diskussionen eingebunden waren sowohl die Schüler als auch die in hohem Masse engagierte Elternschaft.

Von Anfang an war geplant, an der Landesschule einen mathematisch naturwissenschaftlichen Schwerpunkt einzurichten. Schon früh hatten zudem Eltern von Landesschülern auf eine Erweiterung des Unterrichtsangebots gedrängt. Sie wünschten eine substantielle Ergänzung sowohl des Angebots im naturwissenschaftlichen Bereich als auch im Bereich der neueren Sprachen. Nicht nur sollte eine moderne Fremdsprache Abiturfach werden können - man brachte schon damals (1969) eine zweite Sprache, Französisch, ins Gespräch.

Verstärkt wurden diese Forderungen durch die Entwicklungen im staatlichen Schulwesen. Dort verdichteten sich die Vorschläge zur Änderung des Sekundarschulwesens zu einer Reform der gymnasialen Oberstufe (KMK-Modell), die von vielen Gymnasien unmittelbar umgesetzt wurde. Daß diese Entwicklungen in der Oberstufe (Sekundarstufe II) Auswirkungen haben würden auf die Struktur der Mittelstufe (Sekundarstufe I), war abzusehen.

Die entscheidende Neuerung bestand in dem Prinzip, daß der Schu1er sich nicht länger mit einem festen, allgemein verbindlichen Unterrichtsprogramm konfrontiert sah, sondern entsprechend seiner Neigung und Begabung Unterrichtsveranstaltungen auswählen konnte. Das sollte vor allem dadurch erreicht werden, daß die traditionelle vertikale Gliederung in Gymnasialtypen durch eine horizontale (d.h. Kurssystem) ersetzt wurde.

Die Brisanz, die in diesem Prinzip für die Konzeption der Landesschule steckte, lag auf der Hand. Das Kollegium mußte sich diesen Herausforderungen stellen.

Es gab an der Landesschule hervorragend ausgestattete naturwissenschaftliche Fachräume. Am Ende des Schuljahres 1968/69 wurde im Kollegium ein Vorschlag diskutiert, der einen verstärkten Unterricht im Bereich Physik (als Abiturfach) und Biologie/Chemie vorsah, sowie einen Ausbau des Faches Englisch (ebenfalls als Abiturfach) bis zur Oberprima. Zudem sollten die Schüler zwischen Griechisch und Mathematik als Abiturfach wählen können.

Dieser Vorschlag wurde zunächst nicht realisiert; was aber schlossen wurde, war, daß vom folgenden Schuljahr an in Oberstufe naturwissenschaftliche Fächer verstärkt als Pflichtfächer belegt werden konnten.

Es zeigte sich an dieser Stelle, daß das Kollegium nicht ohne weiteres willens war, auf den fahrenden staatlichen Zug "Sekundarstufenreform" aufzuspringen wohl aber bereit, die gemachten Vorgaben der Schulgründer behutsam zu verändern, wenn es notwendig war und sinnvoll erschien.

So wurde der oben genannte Vorschlag weitergedacht; er wuchs mit anderen Entwürfen zusammen zum sogenannten Steiner-Plan, der im Jahre 1970, zwei Jahre vor der Veröffentlichung des KMK-Modells, eine Oberstufenreform an der Landesschule zur Diskussion stellte.

Lange und sehr kontroverse Diskussionen und Debatten wurden damals um die reine Altsprachlichkeit geführt. Sollte so kurz nach der Gründung der Schule eine ihrer vornehmsten Aufgaben, die Pflege der alten Sprachen, eingeschränkt werden? Wäre das gar der Anfang vom Ende?

Eine Reihe von sachlichen Gründen gab den Ausschlag:

1. Die Zahl der Neuanmeldungen ging u.a. deshalb zurück, weil Eltern die reine Altsprachlichkeit abhielt, ihre Kinder an die Landesschule zu schicken.

2. Auch Eltern von Landesschülern wünschten Alternativen zum damaligen Unterrichtsangebot.

3. Es war. nicht länger zu negieren, daß die Entwicklung des staatlichen Schulwesens auf ein differenziertes Kurssystem hinauslief - und Schüler der Landesschule waren zuvor Schüler staatlicher Schulen!

Es ging zwar noch nicht um Sein oder Nichtsein, aber man wollte und durfte nicht - in Anlehnung an ein modernen Zitat - zu spät kommen und von der Geschichte bestraft werden.

Da ein mathematisch-naturwissenschaftlicher Schwerpunkt ohnehin vorgesehen war und, um - so seltsam es klingen mag - den altsprachlichen Schwerpunkt zu stützen, wurde beschlossen, vom Beginn des Schuljahres 1972/73 an innerhalb der Mittelstufendifferenzierung den Obertertianern die Möglichkeit zu geben, zwischen Griechisch und verstärktem mathematisch - naturwissenschaftlichen Unterricht zu wählen. Damit bestand eine Alternative zwischen zwei Schwerpunkten an der Landesschule.

Die Landesschule wählte damit einen anderen Weg als die staatlichen Schulen. Letztere führten i.d.R. die Oberstufenreform vor der Mittelstufenreform durch. Als an der Landesschule die Reform der Sekundarstufe II eingeführt wurde (s.u.), war sie gut vorbereitet.

Die Frage, ob Französisch in den Fächerkanon aufgenommen werden sollte, wurde erneut zurückgestellt, da man der Meinung war - und dieses auch aufgrund von Erfahrungen an anderen altsprachlichen Gymnasien stützen konnte, daß eine Einführung des Französischen das Griechische stark gefährden würde. Um den Wünschen einzelner Eltern entgegenzukommen, wurden in zwei aufeinanderfolgenden Schuljahren zwei assistantes gewonnen, die Französisch in Arbeitsgemeinschaften anboten Hier aber zeigte sich, daß das Interesse der Schüler abnahm, sobald sich herausstellte, daß man für diese Sprache intensiv arbeiten mußte Und da eine AG ohnehin nicht versetzungsrelevant war, konnte man getrost schludern.

So schleppte sich das Problem Französisch dahin; zwischendurch bot die engagierte Mutter eines Schülers für eine Klasse über mehrere Jahre eine (private) Französisch-AG an, die für wenige Schüler erfolgreich war. Erst spät in der Geschichte der Landesschule (1986) wurde - lange nach Einführung des Kurssystems - das Fach im Rahmen der Sekundarstufe II als Grundkurs ab der Jahrgangsstufe 11 (0II) angeboten, und auch dann noch nicht als gleichwertiges Fach, sondern nur als Addendum.

bb. Veränderungen im Internat

Wir sind eine kritische Jugend, vielleicht auch eine etwas unbequeme Jugend Diese Worte des Sprechers der ersten Präfektengeneration anläßlich der Eröffnung der Landesschule im Mai 1968 waren Programm.

Um die Entwicklung in der Auffassung vom Präfektenamt zu verdeutlichen, möchte ich den Altpförtner F. Bruns zitieren, der über das Inspektorenamt an der alten Schulpforte schreibt:

Wer aber selbst einmal Pförtner Inspektor war, der weiß etwas von der stolzen Freude an der Krönung der Vita Portensis. die er in diesem Amte erlebte, und der gedenkt dankbar des reichen Erfahrungsgewinns. den er in der ernsthaften Bewährung vor dem kritischen und immer neu mit leichter Hand zu bändigenden Coetus empfing.; (NP. 3(1976). 5. 10)

Tempora mutantur. Das pädagogische Umfeld, in der solche Erfahrungen möglich waren, hatte sich geändert. Autoritäten wurden hinterfragt, bloße Amtsautorität nicht länger akzeptiert. Das Verhältnis der Jugendlichen zu den Erwachsenen hatte sich gewandelt. Eine stärker ausgeprägte Solidarität der Schüler untereinander bewirkte eher ein Gegeneinander von jung und alt, von - Schülern und Lehrern/Hebdomadaren. In einer solchen Umgebung Präfekt zu sein, war schwieriger geworden: er fühlte sich auf der einen Seite Teil eines Solidarpaktes, agierte auf der anderen Seite als Autorität, gleichsam als Erwachsener. In diesem persönlichen Spannungsfeld bedurfte es schon einer persönlichen Autorität und menschlichen Reife, um das Amt des Präfekten für sich und andere gewinnbringend auszufüllen. Und mancher ist daran gescheitert.

 

Die ersten Präfekten fanden eine vorläufige Präfektenordnung als Richtlinie ihres Handelns vor. Sie umschrieb ein feststehendes Ordnungsgefüge, an das sie sich in der Aufbauphase genauestens hielten. Nachdem die natürliche Unerfahrenheit und Unsicherheit gewichen waren, begann die erste Phase einer Reflexion und Analyse des Präfektenamtes. Die Präfekten empfanden die Präfektenordnung bald als ein Regelwerk, das sie eher zu Ausführungsorganen, zu verlängerten Armen der Hebdomadare (und deren Interessen) machte und das über den pädagogischen Aspekt der Präfektur nur wenig zu sagen hatte.

Schon früh begannen sie mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs für das Internat. Im Zentrum dieses Planes stand eine Internatskonferenz (IKO), die paritätisch besetzt sein und die oberste Entscheidungsgewalt im Internat haben sollte. Die Präfekten suchten ihre Eigenständigkeit, um nicht weiterhin, wie sie es empfanden, die Entscheidungen, die von der Gesamtkonferenz (GK), dem wichtigsten Entscheidungsgremium der Landesschule, getroffen würden, durchführen zu müssen. Auch die Tatsache, daß der GK drei Schülervertreter mit Sitz und Stimme angehörten, konnte die Fronten nicht aufbrechen.

Die Lehrer konnten der Vorstellung, der IKO Entscheidungskompetenzen der GK im Internatsbereich zu übertragen, vor allem aus juristischen Gründen (die Lehrer trugen kontinuierlich die Verantwortung für das Ganze ; die Schülergenerationen wechselten dagegen ständig; Gefahren durch Privatinteressen) aber auch aus anderen Gründen nicht zustimmen (Ausschluß eines Teils der Lehrer/Hebdomadare von Entscheidungen, die das Internat betrafen; Verfestigung. zu Interessengruppen und Erschwerung sachlicher Besprechungen, Blockbildung; Reaktion von Schulträger und Eltern; Fragen der Haftung u.a.m.).

Die Präfekten drohten mit Streik. Das Kollegium. blieb bei der Auffassung, daß die GK das Gremium bleiben müsse, das das Leben in Internat und Schule gestalte und präge.

Das Ergebnis der folgenden Verhandlungen war ein neues Gremium, PafI: Paritätischer Ausschuß für Internatsangelegenheiten - Der PafI war mit vier Lehrern und vier Schülern besetzt. Seine Entschlüsse hatten keine unmittelbare Entscheidungskraft, sondern nur den Charakter eines Votums. Einstimmige Empfehlungen konnten hingegen nur mit einer Zweidrittelmehrheit des jeweiligen Gremiums (auch der Gesamtkonferenz) abgelehnt werden.

Dieser Kompromiß wurde von den Präfekten mitgetragen. Den grundsätzlichen Widerspruch im Präfektensystem sahen sie durch den PafI nicht beseitigt. Sie hatten auf die Entscheidungskompetenz verzichten müssen. Aber die Alternative wäre in ihren Augen die Restauration des "alten Zustands" gewesen.

Jedenfalls bildete der PafI in den folgenden Jahren ein wichtiges Instrument und Medium für die pädagogische Diskussion im Hause. Er wurde gesehen als ein Bindeglied zwischen Schülerschaft und Lehrern, "als das einzige Gremium auf der Landesschule, in dem pädagogische Fragen unter Mitwirkung von Schülern behandelt werden können" (M. Schuhler, ehemaliger Schüler), als ein Hebel, "voreilige Beschlüsse der Gesamtkonferenz ... abzublocken"

(ders.). Von Seiten des Kollegiums wurde dieser Ausschuß bejaht, weil dort in entspannter und sachlicher Atmosphäre nicht nur alltägliche Angelegenheiten besprochen, sondern auch konzeptionelle Dinge vorgeklärt oder nachbereitet werden konnten. Daß damit wertvolle Konferenzzeit gespart wurde, war nur ein angenehmer Begleiteffekt.

6. 1973: Rektoratswechsel - Fünf Jahre Landesschule

Das Jahr 1973 bedeutete in mancher Hinsicht einen Einschnitt.

aa. Wechsel im Rektorat

Im Rahmen des Schulfestes wurde der erste Rektor der Landesschule Dr. Chr. Hartlich feierlich verabschiedet und der neue Rektor U. Beenken durch Präses D. Thimme in sein Amt eingeführt. Sowohl von dem Schuldezernenten des Landeskirchenamtes Dr. Rödding als auch von Präses D. Thimme wurde eine Ortsbestimmung der Landesschule innerhalb der bildungspolitischen Landschaft vorgenommen. Dr. Rödding sagte u.a.

Es geht darum, Anpassung und Widerstand in ein richtiges Verhältnis zueinander zu bringen . Zur Anpassung ist zu sagen, daß diese Schule, wie viele unserer Schulen, vor der Frage steht, wie sie sich dem öffentlichen Schulwesen, in das sie ja hineingehört. anpassen soll und wie sie mit der Bildungsreform fertig wird, über die in unserem Land diskutiert wird... Aber es gibt auch Widerstand, wenn es darum geht. bei dem Inhalt unserer Überlieferung zu bleiben und darin Werte zu sehen, die nicht verloren gehen dürfen. Es geht dann darum, Widerstand zu leisten, wenn man uns sagen will, daß es nicht mehr um Leistung gehe, sondern lediglich um Förderung; Leistung und Förderung in ein richtiges Verhältnis zu bringen, wäre ja wohl auch Aufgabe an dieser Schule, und Bildung und Erziehung zusammenzuhalten und nicht nur von einem zu sprechen. (aus: NP 2(1974). 5. 8)

Präses D. Thimme äußerte in diesem Zusammenhang:

Der Akzent der Verwurzelung in der klassischen Bildung soll hier nicht preisgegeben werden. ... weil täglich von neuem unter Beweis gestellt wird, daß die Verwurzelung von abendländischer Bildung in klassischer Kultur sich durchaus verträgt mit Gegenwartsaufgeschlossenheit von Naturwissenschaft und Technik und der Bemühung - wenn nicht um Weltbemächtigung - so doch um Welterschließung. (Ebd.)

Die Übergabe des Rektorats markierte formal das Ende der Gründung und der Aufbauphase der Landeschule. Die Gründer selbst zeigten sich "gegenwartsaufgeschlossen" und bereit, die vorsichtigen Schritte und Entwicklungen der Landesschule mitzugehen und mitzugehen und mitzutragen. Aber der scheidende Rektor warnte:

Geschichtliches Bewußtsein ist nicht die Tugend unserer Zeit, ist aber unentbehrlich als kritisches Element für jede Gegenwart. Und diese Gegenwart wird es teuer bezahlen müssen, wenn sie dieses kritische Bewußtsein nicht anwendet gegen dasjenige, was diese Zeit selbst als der Weisheit letzten Schluß sich vorstellt. (Ebd.)

bb. Gründung des Landesschulvereins

Anläßlich des Schulfestes fand am 8.September 1973 die offizielle Gründungsversammlung des Landesschulvereins (LSV) statt. Am 30.11. desselben Jahres wurde er in das Vereinsregister beim Amtsgericht Meinerzhagen eingetragen.

"Der Verein hatte den Zweck, im Sinne der Gründer die Weiterentwicklung der Evangelischen Landesschule zur Pforte ideell und materiell zu fördern," schrieb der erste Rektor (NP 3,27). "Im Einverständnis mit dem Schulträger nimmt der Landesschul-Verein die Befugnisse wahr, die im Schulstatut bisher dem sogenannten "Traditionskreis", d.h. der Vertretung der an der Gründung der Landesschule beteiligten Verbände, eingeräumt waren.

Diese Traditionsverbände hatten die Landesschule zuvor mit vielen Finanzhilfen und Sachspenden unterstützt. Dazu gehörten die Boote im Bootshaus an der Listertalsperre ebenso wie Spenden für die Bibliothek, für wissenschaftliche Geräte, für Musikinstrumente, die "Beihilfen" zu Reisen (Klassenfahrten) u.a.m.

Der Landesschulverein engagierte sich in obigem Sinne weiter für die Landesschule. half bei der Finanzierung der Schulzeitschrift, organisierte berufskundliche Informationsreihen, kurz: er tat vieles Nützliche und Hilfreiche.

Die vier Traditionsvereine waren korporative Mitglieder des LSV, hinzu kamen Einzelmitgliedschaften. Die Tatsache, daß sich auch der Arbeitskreis ehemaliger Landeschüler (AkeL) als fünftes korporatives Mitglied dem Landesschulverein anschloß, wurde seinerzeit freudig aufgenommen als Beleg dafür, daß die Chancen zu einer kontinuierlichen Fortentwicklung gestiegen waren.

cc. Der Arbeitskreis ehemaliger Landesschüler (AkeL)

Der Arbeitskreis ehemaliger Landesschüler konstituierte sich am 16.4.1972 zunächst provisorisch, um dann in späteren Jahren eine festere Form zu finden. Er verstand und versteht sich als ein freiwilliger Zusammenschluß aller derjenigen, die zu irgendeinem Zeitpunkt die Landesschule besucht haben und weiterhin das Interesse am Leben ihrer alten Schule wachhalten wollten.

Die Aufgaben, die sich der AkeL gesetzt hatte, wurden im Jahre 1982 folgendermaßen definiert:

1. Der persönliche Kontakt der Ehemaligen zu den jetzigen Schülern, Lehrern und Mitarbeitern ist einer der Schwerpunkte unserer Tätigkeit: Neben der Bereicherung des Freizeitangebots ... sowie finanzieller Unterstützung ... soll auch kulturelles Interesse bei den Schülern dort entwickelt werden, wo es nur mangelhaft entwickelt ist... Gleichzeitig bieten wir den in ihrem "Schulstaat" vom Trubel der Umwelt abgeschirmten Schülern Hilfestellung beim Einstieg in die rauhe Wirklichkeit, etwa durch eine fundierte Studienberatung und ein Anschriftenverzeichnis mit Übernachtungs- und Informationsmöglichkeiten in allen Universitätsstädten.

2. Das zweite Aufgabenfeld ist somit klar abgesteckt: Der Kontakt der Ehemaligen untereinander, der mit regelmäßigen Rundschreiben plus Adressenlisten sowie durch Treffen an der Landesschule aufrechterhalten wird. Hand in Hand damit gehen studien- und berufserleichternde Aktivitäten wie z.B. ein Fernleihsystem für Bücher.

3. Besonders verpflichtet fühlen wir uns den Ehemaligen der alten Schulen, ohne deren Initiative die Landesschule in ihrer spezifischen Form gar nicht denkbar wäre und deren Unterstützung manchem Ehemaligen erst den Besuch der Landesschule ermöglichte... (G. Marchand / B. Seewald: NP. 6(1982). 5. 17).

Der AkeL hat sich für seiner Schule engagiert. Er hat nicht nur über viele Jahre am Martinitag den Wein zum Gänseessen spendiert. Seine aktiven Mitglieder haben sich und ihre Erfahrungen immer wieder in die Landesschule eingebracht und das Leben dort mit konstruktiver Kritik begleitet.

7. Die Landesschule als eine Schule in kirchlicher Trägerschaft

Ubi spiritus Domini, ibi libertas - wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Das ist in den Grundstein der Evangelischen Landesschule zur Pforte eingemeißelt. Dieses Wort sollte das geistige und geistliche Fundament im Leben dieser Schule festschreiben.

War dieser Grund - Stein nun tragender Grund oder aber Stein des Anstoßes für viele, die in der Landesschule aus- und eingingen?

Die Landesschule stand in der Tradition der Fürstenschulen, die als evangelische Bildungseinrichtungen gegründet worden waren. Der Name Evangelische Landesschule verdeutlicht, daß sie sich in diese Tradition gestellt wußte. Der evangelische Charakter sollte neben der Wahrung schulischer Tradition und der Auseinandersetzung mit der pädagogischen Wirklichkeit die dritte unverrückbare Stütze der Landesschule formen.

Der damalige Präses der EKvW, D. H. Thimme, schrieb in einem Beitrag zum 10-jährigen Jubiläum der Landesschule:

Der evangelische Charakter gehört zur selbstverständlichen Vorgegebenheit der ganzen Einrichtung. Freilich ist es gar nicht so selbstverständlich, eine solche Traditionsbezeichnung mit Inhalt zu füllen, zumal wenn evangelischer Glaube zu seiner Entfaltung der Freiheit bedarf und bei bloßer formaler Sollerfüllung bald verkümmert... Von entscheidender Bedeutung sind die beteiligten Menschen, wenn es darum geht. bestehende Sitte und Ordnung mit Sinn und Leben zu füllen. Wichtig ist dabei, wenn die Schule als ganze... in eine Umgebung eingebettet ist, die ihr nicht nur mit Aufgeschlossenheit und Verständnis begegnet. sondern von ihrer eigenen Prägung und Tradition her einen förderlichen evangelischen Einfluß ausübt.(NP. 4(1978). 5. 4)

Der Rahmen war gegeben. 1961 wurde der Kirchengemeinde Meinerzhagen anläßlich einer landeskirchlichen Visitation im Kirchenkreis Lüdenscheid geraten; auf der Birkeshöh in der großen Neubausiedlung ein zweites Gemeindezentrum einzurichten. Dieses Kirchenzentrum sollte eine Brücke darstellen zur geplanten Landesschule zur Pforte und das Leben der Schulgemeinde mit dem der Kirchengemeinde verzahnen.

Die Einheit von Kirche und Schule sollte auch optisch zum Ausdruck gebracht werden durch den Plan, den Zugang zum Haupteingang der Schule vom Inselweg auf die Kirche zu und am Glockenturm vorbei zu führen. Dieser Plan wurde jedoch nicht realisiert.

Der Pfarrer des neuen Gemeindebezirks wurde Seelsorger der Landesschüler und ihr Konfirmator. Die Schulmusikerstelle wurde verbunden mit dem Organistendienst in der Johanneskirche. An dieser Stelle hat sich die Bindung und Verbindung am deutlichsten ausgeprägt und am längsten erhalten: Die Kantorei und die Bläser, Instrumentalisten und orgelspielende Schüler haben zahlreiche Gottesdienste in der Johanneskirche mitgestaltet.

Was aber nicht gelang, war, das Gemeindeleben in das Internat hineinwirken zu lassen. Die Pfarrer der Johanneskirche haben immer wieder beklagt, daß es kaum möglich war, aufgeschlossenen und interessierten Schülern die Teilnahme an Gemeindegruppen zu ermöglichen, da Termine und Ordnungen des Internats (Silentium, Abendversammlungen, feste Zubettgehzeiten u.a.m.) eine solche Teilnahme weitestgehend erschwerten. Tragende Lösungen sind langfristig nicht gefunden worden, wohl auch deshalb, weil auf Seiten der Schüler nur ein geringes Interesse bestand, sich außerhalb der Gottesdienste in der Kirchengemeinde zu engagieren. Was aber auf der anderen Seite nicht heißen soll, daß es nicht Schüler gegeben hat, die ihren Weg in die Gemeinde gingen und dort Verantwortung übernahmen. Aber sie waren die Ausnahme.

Es ist kein typisches Phänomen unserer Zeit, daß sich Jugendliche im Umgang und in der Auseinandersetzung mit religiösen Fragen schwer tun. Junge Menschen haben allerdings ein sehr gutes Gespür dafür, ob sich eine Schule nur in ihren Formen oder aber in ihren Inhalten, in ihrem Tun als eine evangelische, eine kirchliche Schule darstellt und erleben läßt.

Schon der Sprecher der Präfekten formulierte anläßlich der Eröffnung der Landesschule folgende Sätze:

Die Evangelische Landesschule zur Pforte ist eine christliche, ja sogar kirchliche Schule, und dieser Charakter ist uns ein echtes Problem... Was hat uns die Bibel auch heute noch zu sagen? Inwieweit repräsentiert die Kirche das Christentum? Hat das Christentum in der modernen Welt noch eine Aufgabe? Fragen, die uns herausfordern und mit denen wir uns kritisch und ehrlich auseinandersetzen wollen. (NP. 11(1988). 5. 19)

Sich dieser Herausforderung in kritischer Auseinandersetzung zu stellen hat die Landesschule als Institution - trotz gegenteiliger verbaler Äußerungen - letztlich nicht vermocht. Stattgefunden hat diese Auseinandersetzung nur in kleinsten Kreisen, in einem persönlichen Umfeld, eher privat. Im Internat eine kleine Gruppe interessierter Jungen zu sammeln, die kirchlich und gemeindlich mitdenken und mitgestalten wollten, war für die Betroffenen in der Regel schwer durchzuhalten.

Eine Offenheit zu Gesprächen war immer gegeben. Und diese Gespräche waren fruchtbar, wenn deutlich werden konnte, daß die Gesprächspartner mit ihrer Person hinter dem Gesagten standen.

Auch die zunächst festen institutionellen Verankerungen (Lesungen, Tischgebete, Andachten) zeigten im Verlauf der Jahre deutliche Risse. Die Andachten z.B. fanden in der ersten Zeit täglich statt und wurden von dem jeweiligen Hebdomadar gehalten. Bereits 1969 wurden diese Andachten durch eine tägliche Lesung (vor dem Frühstück) und durch eine wöchentliche Andacht am Montagmorgen ersetzt. Gehalten wurden diese Andachten von Lehrern (aber nicht von allen), vom Pfarrer der Gemeinde oder von einzelnen Schülern oder Schülergruppen. Ihr Besuch war obligatorisch. Die Schwierigkeiten, die sich langfristig daraus ergaben, waren belastend und schufen unwürdige Bedingungen. In den letzten Jahren der Landesschule gab es nur noch eine monatliche Andacht. Und deren Besuch war freiwillig.

Damit hatte sich in der Diskussion um die Frage, ob die Teilnahme der Schüler einer kirchlichen Schule an der Andacht selbstverständlich verbindlich oder ebenso selbstverständlich freiwillig sei, die Waage zugunsten der Freiwilligkeit geneigt. Dieses Prinzip wurde als ehrlicher empfunden. Die Landesschule ist letztlich den Ansprüchen, denen sie sich als kirchliche Schule gegenübersah, nicht gerecht geworden. Waren sie zu hoch gesteckt worden? Oder war das Evangelische an ihr - vielleicht wegen bloßer "formaler Sollerfüllung" - "verkümmert?" Dann war sie am Ende eine "normale" Schule.