Die Idee einer Schule

Aus zwei Gründen entstand in Meinerzhagen 1968 eine Schule, die den Namen und die Tradition der Fürsten- und Landesschulen weitertragen sollte - aus Gründen, die so gegensätzlich und dialektisch verwoben waren, daß man schon über die Symbolik solcher Gegensätzlichkeiten nachdenklich werden darf:

Modell der LandesschuleDa war einerseits die Unerreichbarkeit der angestammten Schulorte, unerreichbar durch den Stolz einer Ideologie mit Ewigkeitsanspruch und unerreichbar für den reaktionären Klassenfeind, der seinerseits das Objekt seiner ganz unideologischen Anhänglichkeit vernünftigerweise, innerhalb eines Menschenlebens jedenfalls, für unerreichbar halten mußte Und andererseits etwa bei den alten Pförtnern die pietas Portensis, also das unbedingt verpflichtende Gefühl der Dankbarkeit gegenüber einer Schulidee, deren Erben um so realistischer einen Ort für die Idee suchten, als sie von deren Wert einerseits und andererseits von der Unerreichbarkeit der alten Orte überzeugt sein konnten.

Von den Männern, die der Meinung waren, ihre Dankbarkeit sei erst die rechte, wenn die selbsterlebten Werte der Erziehung und Bildung ,wie in Pforte" (respektive in "Grimma", in "St. Afra", im "Stall" von Joachimsthal) Grundsteinlegungwieder eine Möglichkeit erhielten lebendig zu werden, und die den Mut aufbrachten, die Idee einer Neugründung in die Tat umzusetzen, von diesen Männern sind nur noch wenige in der Lage, über die vielfältigen Vorüberlegungen und Vorarbeiten Auskunft zu geben, die zum Neubeginn in Meinerzhagen führten.

Es ist zu wünschen, daß all dies eine angemessene Darstellung noch findet. Wie die verschiedenen Ehemaligenverbände sich im Detmolder Schulausschuß, dem Gründungsausschuß für die Landesschule in Meinerzhagen, zusammenfanden, eine Konzeption erarbeiteten, einen Schulträger in der Evangelischen Kirche von Westfalen gewannen, einen namhaften Beitrag des Landes Nordrhein-Westfalen zu den Baukosten erreichten und ein Lehrerkollegium verpflichteten, das sich auf der Grundlage der tradierten Werte zu angemessener Neugestaltung des künftigen Schulstaates bereitfand, nicht zuletzt, wie es gelang, durch die Werbung zahlreicher Freistellen in der Melanchthon-Stiftung eine entscheidend wichtige Voraussetzung für die Existenzfähigkeit eines Internates zu schaffen, all dies kann hier nur - in solchen Stichworten - angedeutet werden.

Auf den folgenden Seiten geht es vielmehr darum, in einem ersten Versuch darzustellen, was seit 1968 in nahezu einem Vierteljahrhundert geschehen ist, aus welchem Geist und mit welcher Zielsetzung Schüler und Lehrer zusammen lebten und arbeiteten, und wie es ein Ende fand.

(Besonders im Hinblick auf dieses Ende sind die Verfasser sich dessen bewußt, daß sie, als Lehrer in der Gefahr allzu großer Nähe in ihrem Gegenstand, cum ira et studio sich äußern könnten; andererseits sind sie vielleicht für einen objektiveren Historiker doch eine Quelle dafür, "wie es wirklich gewesen ist".)

Zu den Vorarbeiten jener Gründungsväter gehörte die Formulierung eines Schulstatutes. In ihm findet man alle Elemente genannt, um deren Erhaltung willen sie die Gründung betrieben. Zunächst wird in den Grundbestimmungen die Schule beschrieben als "Internatsschule nach der Tradition der vier ehemaligen evangelischen Fürsten- und Landesschulen" (wozu alsbald der Verein ehemaliger Rossleber als fünfter Traditionsverband trat); ferner wird die Trägerschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen (damit der Privatstatus), sowie Kuratorium, Freistellenwerk und zuletzt besonders Rektor und Kollegium als entscheidend verantwortlich "für die Aufnahme und Weiterentwicklung der Tradition im Leben der Schule" genannt. Die gleiche Traditionsverbundenheit findet sich im folgenden Abschnitt des Statuts, wo das Bildungs- und Erziehungsziel als das des altsprachlichen Gymnasiums, bei angemessener Zuordnung der modernen Fremdsprachen, der Naturwissenschaften und der musischen Fächer, beschrieben wird. Es fällt auf, daß am Ende erneut dem Lehrerkollegium die Aufgabe zugewiesen wird, durch einen "Anstaltslehrplan" jene Zuordnung und Gewichtung zu konkretisieren. Konkret aber wird das Schulstatut in seinem Kern, nämlich wo unter den "Grundelementen des inneren Lebens der Schule", nun eindeutig der Fürstenschultradition folgend, das "Aufsichtsamt der Primaner" beschrieben wird: Die angestrebte Form des gemeinsamen Lebens soll, zugleich als M e t h o d e und als Z i e 1 der Erziehung, die Verantwortung der Internatsschü1er füreinander und für die Gemeinschaft entwickeln, und zwar durch die abgestufte Zuweisung von Verantwortlichkeiten und Freiheiten, die ihr Ziel im Aufsichtsamt der Primaner als "Präfekten" findet.

Vor allem folgt aus dieser Grundidee das weitgehende Zurücktreten der Erwachsenen als Erzieher. Sie sind als Hebdomadare immer Lehrer, die im wöchentlichen Wechsel die Internatsaufsicht übernehmen, so daß der Identität von Schülerschaft und Internatsbelegschaft diejenige von Erzieher- und Lehrerkollegium entspricht und die Einheit von Erziehungs- und Bildungsarbeit zur gelebten Selbstverständlichkeit wird. Es folgen aus der Grundidee dann auch alle weiteren Elemente der gesamten Konstruktion: Die Mischung der Altersstufen im Wohn- und Arbeitsbereich, die Aufnahme von Schülern erst ab der siebten Jahrgangsstufe, die Notwendigkeit der Beschränkung auf eine überschaubar kleine Schülerschaft und anderes mehr.

Die besonderen Anforderungen, die ein solches System an die charakterliche und intellektuelle Eignung der aufzunehmenden Schüler stellen würde, lagen für die Gründer auf der Hand. Aber in ganz gleicher Weise wie dem Gründer der Fürstenschulen war auch für den Träger der Schule in Meinerzhagen zur Zeit ihrer Gründung der Begriff der evangelischen Verantwortung in dem weiteren Sinne maßgeblich, daß Diakonie eben nicht ausschließlich Hinwendung zu den Schwachen und Hilfsbedürftigen, sondern auch Eröffnung von angemessenen Chancen für diejenigen bedeutete, denen besondere Verantwortung und Leistung für die Gesellschaft abzufordern wäre, wenn man ihre Leistungsfähigkeit ohne Ansehen ihres wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Hintergrundes besonders förderte.

Ein solches Konzept war freilich ebenso leicht als elitär zu denunzieren, wie die Kritik daran zu kurz greift. Die Risiken liegen ja auch auf der Hand und waren ständig präsent: Die Machtfülle der Präfekten, die Erstarrung des Lebens in alles durchdringender Regelhaftigkeit, die zu knappen Möglichkeiten zum Rückzug in private Refugien angesichts der Übermacht des öffentlichen Lebens im Internat, die Überforderung der intuitiven Pädagogik der immerhin jugendlichen "Erzieher", das Angewiesensein der Schule auf die hinreichende Qualität der je nachkommenden Schüler, aber auch die Innovationsfähigkeit und Belastbarkeit des Rektors, der Lehrer-Hebdomadare und nicht zuletzt ihrer Ehefrauen und Familien ... . Die umschriebenen Kerngedanken waren also in gleichem Maße althergebracht-ehrwürdig wie befragungsbedürftig, die Höhe ihres Anspruchs war wohl verpflichtende Bewährtheit, mehr noch aber eine der kritischen Entwicklung auszusetzende Erbschaft.

Die Leitung der Evangelischen Kirche von Westfalen machte das Schulstatut zu ihrer Sache und zur Sache ihrer Lehrer, die sie anfänglich zu Kirchenbeamten ernannte und feierlich auf seinen Geist und Wortlaut verpflichtete Im Laufe der Entwicklung der Schule wurde es in manchen Punkten durch die Notwendigkeit des Alltags, oft unmerklich, aber auch durch äußere Zwänge und ganz bewußt faktisch verändert - davon ist in der folgenden chronologischen Einzeldarstellung die Rede. Aber immer wurde es in seinen essentiellen Bestandteilen vom Kollegium deutlich als Maxime der Schulexistenz empfunden und auch praktiziert.

Das ist nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, wie kritisch besonders die Anfangsjahre in schul- und bildungspolitischer Hinsicht waren. In einer Krise des Selbstverständnisses und der Haltung der Kirchenverwaltung zu ihrer Schule im Jahre 1973 war es bezeichnend, daß der oberste Repräsentant des Trägers, Präses D. Thimme, selber mit dem Kollegium zusammen in einer unvergeßlichen Nachtsitzung die "Essentials" seiner Arbeit neuerlich bestätigt: Die Absicht der Kirchenleitung, die Identität der Schule durchzuhalten, nämlich die Begabtenförderung, das altsprachliche Angebot des Lehrplanes, besonders aber die ausdrückliche Bestätigung, daß Ausbildung und Erziehung wesenhaft im System der Landesschule zusammengehören, also die Internatstätigkeit der Lehrer - das Hebdomadariat und das Präfektenamt - ein "integnerendes Element im Ganzen der Schule sei". Dies als Beleg für die Kontinuität in den Dingen, die die Lehrer und ebenso auch die Schüler immer als das Zentrum ihrer Schule ansahen.

Ob die - gemessen an der langen Geschichte der "Mutter Pforte"- kurze Lebenszeit der Landesschule die Arbeit und Mühe wert war, das zu beurteilen ist gewiß nicht die Sache derer, die sich bemüht haben. Man kann die Schüler fragen, oder besser noch, man sollte sehen, ob sich beim einen oder anderen etwas von dem wiederfindet, was man in Meinerzhagen lernen sollte - ob also die Idee dort gut aufgehoben war, wohin man sie für eine Zeit verpflanzt hatte.